Warum bekommen Mädchen bessere Zensuren als Jungen?
Soziologen der Universität Trient stellen fest, dass Mädchen in der Schule für die gleiche Leistung bessere Noten bekommen als Jungen. Darüber hinaus zeigen sie zum ersten Mal, dass dieses Benotungsverhalten zugunsten von Mädchen systemisch ist, da Lehrer- und Klassenraummerkmale vernachlässigbar sind.
Diskrepanz zwischen anonymen Tests und Schulnoten
Die Autoren, Ilaria Lievore und Moris Triventi von der Universität Trient, erläutern zunächst die Ergebnisse standardisierter Tests mit Punktesystemen. Demnach zeigt ein Vergleich der Daten aus OECD-Ländern, dass Mädchen in der Regel in den Bereichen Geisteswissenschaften, Sprache und Lesen besser abschneiden als Jungen, während Jungen bessere Ergebnisse in Mathematik erzielen (PISA 2019; OECD 2019; IES 2009). Die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind bei leistungsstarken Schülern sogar noch größer (OECD 2014).
Werden die Schüler hingegen von Lehrern im Klassenraum bewertet, schneiden Mädchen in allen Fächern besser ab als Jungen.
Lievore und Triventi untermauern diese Aussage, indem sie weltweite Forschungsergebnisse anführen, unter anderem aus Israel (Lavy, 2008), Tschechien (Protivínský und Münich, 2018), Deutschland (Kiss, 2013) Portugal (Angelo, 2014) und Frankreich (Terrier, 2015). Auch für Schweden gibt es eine Studie von Lindahl (2007), demnach Mädchen großzügiger bewertet werden als Jungen. In einer anderen schwedischen Studie wurden hingegen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Benotung festgestellt (Hinnerich, Höglin und Johannesson 2011).
Als Folge übertreffen weibliche Schüler die Jungen nicht nur in Bezug auf die durchschnittlichen Schulleistungen, sondern auch die Einschreibung an Universitäten und die Erlangung von Hochschulabschlüssen.
Folgen der Benachteiligung
Die Ursachen für die Benachteiligung von Jungen in der Bildung konnten noch nicht ausreichend erklärt werden. Jedoch ist es aus mehreren Gründen wichtig, weiterführende Forschungsarbeiten anzustoßen.
Schulnoten können sich auf die Motivation der Schüler und somit auf ihre Leistungen auswirken. Darüber hinaus sind die Noten ein Indikator für die akademischen Fähigkeiten der Schüler und können somit die Entscheidung der Familie beeinflussen, wie viel sie in die Bildungslaufbahn des Kindes investieren. Schulnoten sind oft ausschlaggebend für die Wahl der Schule oder für eine Empfehlung für eine bestimmte Schule, für die Hochschulzulassung oder den Zugang zu Stipendien. Darüber hinaus können die Beurteilungen von Lehrkräften auch langfristige Folgen haben und die Berufswahl und damit das Einkommen der Schüler im Erwachsenenalter beeinflussen.
Design der Studie
Die aktuelle Untersuchung der Forscher der Universität Trient stützt sich eine Stichprobe von etwa 39.000 Schülern. Mithilfe von hierarchischen linearen Regressionsmodellen wurden nicht nur die Leistungsunterschiede zwischen weiblichen und männlichen Schülern in den beiden Schlüsselfächern Sprache und Mathematik bewertet, sondern auch das Ausmaß, in dem diese Lücke je nach Lehrereigenschaften, Klassenzusammensetzung und Schulrichtung variiert.
Die Ergebnisse in standardisierten Sprach- und Mathematiktests wurden mit den Noten verglichen, die sie in ihren Klassenarbeiten erzielt hatten. Die standardisierten Tests wurden auf nationaler Ebene durchgeführt und anonym bewertet, während die Klassenarbeiten im Klassenzimmer durchgeführt und nicht anonym von den Lehrern bewertet wurden.
Die Forscher untersuchten weiterhin, ob Faktoren wie die Art der Schule, die Größe und die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Klassen für die geschlechtsspezifischen Unterschiede verantwortlich waren und ob Merkmale der Lehrkräfte selbst (Dienstalter, Erfahrung, Geschlecht) eine Erklärung für die großzügigere Benotung von Mädchen lieferten.
Abbildung 1: Durchschnittliche Testergebnisse in Mathematik für männliche und weibliche Schüler
Eigene Darstellung nach Lievore und Triventi
Abbildung 2: durchschnittliche Lehrernoten in Mathematik für männliche und weibliche Schüler
Eigene Darstellung nach Lievore und Triventi
Ergebnisse der Studie
In Übereinstimmung mit früheren Studien schnitten die Mädchen bei den standardisierten Sprachtests besser ab als die Jungen, während die Jungen in Mathematik die Nase vorn hatten. Die Lehrerinnen und Lehrer setzten jedoch die Mädchen in beiden Fächern an die Spitze.
Es zeigte sich, dass nur zwei Faktoren einen Einfluss hatten – und das auch nur in Mathematik. Der geschlechtsspezifische Unterschied bei den Mathematiknoten war größer, wenn die Klassen größer waren. Außerdem wurden Mädchen in technischen und akademischen Schulen besser benotet als Jungen in Berufsschulen.
Keiner der anderen Faktoren hatte einen nennenswerten Einfluss auf die Verringerung der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Benotung.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse zum ersten Mal, dass die schlechtere Benotung von Mädchen systembedingt ist, d. h. sie ist nicht auf ein bestimmtes Versagen zurückzuführen, sondern im gesamten Schulsystem verankert.
Fazit
Die Autoren der Studie halten es für möglich, dass Lehrer beim Lesen unbewusst Schüler belohnen, die traditionell weibliche Verhaltensweisen an den Tag legen, wie z. B. Ruhe und Ordentlichkeit, was den Lehrern das Unterrichten erleichtert. Eine andere Theorie besagt, dass überhöhte Noten in Mathematik ein Mittel sind, um Mädchen, die in diesem Fach oft als schwächer angesehen werden, zu ermutigen.
Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass die Voreingenommenheit gegenüber Jungen an italienischen Schulen erheblich ist und langfristige Folgen haben könnte.
“Es besteht ein starker Zusammenhang zwischen besseren Noten und wünschenswerten Bildungsergebnissen, wie der Zulassung zu guten Colleges oder einer geringeren Wahrscheinlichkeit, die Schule abzubrechen”, sagt Forscherin Ilaria Lievore, Doktorandin der Soziologie. “Folglich sind bessere Noten auch mit anderen Ergebnissen verbunden, wie einem höheren Einkommen, einem besseren Arbeitsplatz oder sogar einer höheren Lebenszufriedenheit.”
Die Forschungsarbeit wurde im British Journal of Sociology of Education (2022) veröffentlicht: www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/01425692.2022.2122942
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