Lektorat mit nautischem Touch
Bei der Lektoratsarbeit zu Georg Vegas „Mathematische Betrachtungen über eine sich um eine unbewegliche Achse gleichförmig drehende feste Kugel” von 1798 erkannte ich sofort: Das ist doch ein Thema, das ich aus der Praxis kenne.
Herausgegeben wurde die zweisprachige Edition von Denis Lenardič, der den deutschen Originaltext transkribierte, ins Slowenische übersetzte und kommentierte. Meine Aufgabe schien überschaubar: den deutschen Begleittext stilistisch überarbeiten und den transkribierten Originaltext mathematisch prüfen, da die historische Schrift stellenweise schwer zu entziffern war und sich beim Transkribieren Fehler einschleichen konnten.
Jahre auf den Brücken von Handelsschiffen haben mir Vegas Thema nahebracht, lange bevor ich wusste, wer er war. Mit dem Sextanten in der Hand, beim Messen von Gestirnshöhen, war ich seinen Berechnungen bereits begegnet – nur hatte ich das nie so gesehen.
Bei der astronomischen Standortbestimmung messe ich mit dem Sextanten die Höhe von Himmelskörpern über dem Horizont. Aus dem Nautical Almanac erhalte ich die berechnete Höhe für eine angenommene Position. Die Differenz zwischen gemessener und berechneter Höhe ergibt eine Standlinie. Mehrere Standlinien ergeben den Schiffsort.
Das klingt zunächst vielleicht einfach, ist es aber nicht. Denn für präzise Ergebnisse sind Korrekturen nötig: für atmosphärische Refraktion, für die Höhe des Beobachters über dem Meeresspiegel, für die Parallaxe (bei Mondmessungen), für Instrumentenfehler. Und eben auch für die Tatsache, dass die Erde rotiert.
Genau diese Abweichung machte Vega 1798 zum Thema seiner Abhandlung.
Vega untersuchte systematisch, wie sich die Erdrotation auf die Schwerefeldrichtung auswirkt. Seine größte berechnete Ablenkung: knapp 6 Bogenminuten. Sechs Bogenminuten sind für einen Laien wahrscheinlich nichts. In der Navigation entspricht das jedoch rund sechs Seemeilen, also mehr als zehn Kilometer. Das ist eine Abweichung, die weit jenseits der Genauigkeit liegt, die man als Navigator mit sorgfältiger Messung erreichen will.
Vegas Pionierleistung
Vegas Sorgfalt beeindruckt. Seine handgerechneten Tabellen erreichen eine Genauigkeit, die auch heute respektabel wäre. Modern ist auch sein Ansatz: systematische Fehleranalyse, tabellarische Darstellung, praktische Anwendbarkeit.
Beim Prüfen von Lenardičs Übertragung von Vegas Abhandlung musste ich aufpassen: „Wahre Polhöhe”, „scheinbare Breite” – diese Begriffe haben präzise Bedeutungen. Nicht nur ein falsches Wort, sondern schon eine ungenaue Nuance und der wissenschaftshistorische Wert wäre dahin gewesen.
Aber das Schönste war ein anderes Erlebnis: Ich erkannte in Vegas handgerechneten Tabellen die Vorläufer jener Korrekturtabellen wieder, die ich selbst verwendet hatte. Seine „Verwandlung der wahren Polhöhen in wahre Breiten” behandelte genau das Problem, das in jeder Berechnung zur astronomischen Navigation steckt: Wie bringe ich astronomische Messung und geographische Position zusammen?
Heute ist diese Kunst fast verloren gegangen. Sextanten werden zwar noch an Bord mitgeführt, aber viele Nautiker haben vergessen, wie die Berechnungen funktionieren. Ich fuhr unter einem Kapitän, der dafür sorgte, die Tradition aufrechtzuerhalten. Es artete fast in eine Art Sport aus, bei Seepassagen jeden Tag zwei Positionen mit dem Sextanten zu bestimmen. Einer “schoss” Sterne (bzw. tagsüber die Sonne) in der Steuerbordnock, der andere gleichzeitig in der Backbordnock. Anschließend verglichen wir, wer näher an der GPS-Position lag.

Nautischer Sextant. Bild von Marek Ostasz auf pixabay.com
Lektorat ist oft Detektivarbeit: Man spürt Ungenauigkeiten auf, hinterfragt auch scheinbar stimmige Aussagen und sorgt für Verständlichkeit. Bei Vegas Werk kam etwas Ungewöhnliches dazu: die stille Bewunderung für einen Pionier, dessen Arbeit mich über die Jahrhunderte hinweg erreicht hatte.
Mir wird dieses Projekt immer in Erinnerung bleiben. Vegas Berechnungen sind für mich keine tote Theorie – sie hatten mich sicher durch die Weltmeere navigieren lassen.
Manchmal fügen sich Projekte eben doch wie Puzzleteile zusammen. Nur merkt man es erst hinterher.
Denis Lenardič, Georg Vega
Vega: Mathematische Betrachtungen über eine sich um eine unbewegliche Achse gleichförmig drehende feste Kugel
Der folgende Link führt zu einer Leseprobe:
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Titelbild: Georg Freiherr von Vega
Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=138878
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